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Magicmoment

Radfahren gegen Rheuma

Die vierjährige Alida lebt mit Rheuma. Dass sie seit bald einem Jahr Radfahren kann, hat ihren Selbstwert massiv gestärkt – und ihrer kleinen Familie den Alltag erleichtert.

Katharina Brunner

„Da hinten ist ein Zitronenfalter, Mama. Schau!“, ruft Alida kurz bevor sie das Bein über ihr violettes Fahrrad schwingt und aufsteigt. Ein paar Meter weiter fällt ihr Blick auf das Beet am kleinen Kreisverkehr. Gelbe Primeln leuchten, die Erde rundherum noch dunkel, frisch gewässert. Alida bremst gekonnt und bleibt stehen, um sich alles genauer anzuschauen. Während um sie herum der Baustellenlärm tobt, versinkt ihr Blick für eine Weile in den Blumen. Doch bald wendet sie ihre Aufmerksamkeit einer neuen Sache zu: „Fahren wir noch zum Spielplatz, Mama?“

Der Spielplatz liegt auf ihrem alltäglichen Weg in Kirchham, einem Dorf mit 2400 Bewohnerinnen und Bewohnern in Niederbayern. Der Weg führt zum nächsten kleinen Supermarkt, den Mutter und Tochter „Dorf-Edeka“ nennen. Alida setzt zuerst den einen Fuß, dann den anderen auf einen langen Holzpfosten, der einen halben Meter über dem Boden schwebt und beginnt zu balancieren. Ihre Mutter Daniele Brenzinger sieht stolz zu. Mit vier Jahren mag das Balancieren über einen 20 Zentimeter dicken Balken für die meisten Kinder kein Kunststück mehr sein – für Alida aber ist es eine besondere Herausforderung: Kurz vor ihrem zweiten Geburtstag – also vor knapp drei Jahren – wurde bei Alida Kinderrheuma diagnostiziert. 

Eines von 1.000 Kindern ist von juveniler idiopathischer Arthritis betroffen

Der Begriff Rheuma umfasst in Wirklichkeit nicht eines, sondern viele verschiedene Krankheitsbilder – landläufig bezeichnet man damit vor allem Gelenkerkrankungen, deren Ursache unbekannt ist. Alidas Diagnose ist die sogenannte juvenile idiopathische Arthritis, also Gelenkbeschwerden, die vor dem 16. Lebensjahr auftreten. In Österreich ist etwa eines von 1.000 Kindern davon betroffen.

Seit der Diagnose ist Alidas Mutter immer auf der Hut. Auch beim Balancieren beobachtet die 35-Jährige die Bewegungen ihrer Tochter genau, schaut, ob die Gelenke einwandfrei arbeiten oder ob Alida unsicher ist. Ob sie vielleicht Schonhaltungen einnimmt, aber die Schmerzen nicht offen zeigt. 

Arztbesuche und Medikamente

Derzeit sind die Tage der beiden unbeschwerter. Die Schmerzen in den Gelenken sind weg, dennoch beschäftigt sie derzeit eine Augenentzündung, die bei Kleinkindern oft im Zusammenhang mit Rheuma auftritt, und im schlimmsten Fall auch zu Erblindung führen kann. Was Alidas Alltag von dem anderer Kinder unterscheidet, sind die regelmäßigen Arztbesuche und die Medikamente. Aber zumindest Schmerzen hat sie derzeit keine. 

Das war freilich nicht immer so. Rheuma ist eine chronische Erkrankung, das bedeutet sie kann immer wieder auftreten, und dann meist rund sechs Wochen andauern. Als die Krankheit akut war, erinnert sich Daniela, sei Alida antriebslos gewesen, wollte sich nicht bewegen. Handgelenke und Knie waren geschwollen. Das rechte Handgelenk in einer unnatürlichen Schonhaltung zur Seite gedreht. 

Eltern bemerken eine annähernde Rheuma-Phase bei Kleinkindern meist, wenn die Kinder wieder mehr getragen werden wollen, ihre Stimmung getrübt ist oder sie morgens Knöpfe in der Kleidung nicht zuknöpfen können, weil die Finger zu steif sind. In welchem Abstand die Gelenkschmerzen auftreten, kann man nicht vorhersagen. Ziel jeder Therapie ist es aber, die schmerz-und entzündungsfreien Phasen so lang wie möglich zu halten: Die guten, schmerzfreien Abschnitte können mehrere Jahre andauern. Manchmal sind es nur einige Wochen. 

Wir spielen Spital

Derzeit sind es schmerzfreie Wochen für Alida. Sie und ihre Mutter Daniela leben in einer Wohnung auf einem Bauernhof. Ich besuche sie an einem sonnigen Wochenende Ende März, von draußen hört man die Vögel zwitschern, durch die offene Balkontür strahlt die Sonne auf Alidas Locken, die stets ein bisschen durcheinander sind. Mit ihrer linken Hand streicht sich das Mädchen immer wieder die Haare aus dem Gesicht, während die rechte Hand mit einem kleinen Modellauto den Küchentisch auf- und abfährt: Es ist ein Krankenwagen.

„Nochmal! Jetzt spielen wir, dass du Alida bist und ich bin die Ärztin”, leitet Alida mich im Spiel an. „Du musst sagen, dass dir deine Gelenke weh tun!“, sagt sie zu mir. Es ist mittlerweile die fünfte Version einer Spielszene. Das Setting bleibt das gleiche, nur die Charaktere verhalten sich mit jeder Wiederholung ein wenig anders. In dieser Runde des Spiels werde ich als Alida vom Krankenwagen abgeholt und ins Spital gebracht: „Jetzt kommst du in die Röhre zur Untersuchung!“, ruft das Mädchen. 

Was Alida hier gut gelaunt nachspielt, ist von der Realität nicht weit entfernt. Als Alidas Eltern erstmals die Schwellungen bemerkten, verbrachten Daniela und Alida acht Wochen lang für Untersuchungen im Krankenhaus, bis sie letztlich ins deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendrheumatologie Garmisch-Partenkirchen kamen. Alida bekam jeden Tag Spritzen gegen die Schmerzen. 

„Nicht jede Gelenkentzündung oder jeder Gelenkschmerz bedeutet Rheuma”, erklärt Dr. Michaela Sailer-Höck von der Rheumatologie-Station für Kinder und Jugendliche der Universitätsklinik Innsbruck. Es gibt eine ganze Reihe von Ursachen für eine Gelenkentzündung, wie Ringelröteln oder grippale Effekte. „Diese müssen ausgeschlossen werden bevor man von einer juvenilen idiopathischen Arthritis sprechen kann”, sagt die Medizinerin. Oft dauert es länger bis die Krankheit bei Kleinkindern diagnostiziert wird, weil diese ihren Schmerz noch nicht genau beschreiben können, gleich Schonhaltungen einnehmen und darum später zu Spezialisten oder Spezialistinnen kommen, sagt Sailer-Hoeck.

Medikamente, die das Immunsystem hemmen

Immer, auch jetzt beim Spiel mit dem Krankenwagen am Esstisch, beobachtet Daniela die Körperhaltung ihrer Tochter ganz genau. Sie macht mich darauf aufmerksam, dass sich Alida, wenn sie mit dem Krankenwagen um die Kurve fährt, auf eine eigentümliche Weise etwas zur Seite neigt. „Das ist übrig geblieben vom ersten schweren Schub der Rheumaerkrankung, und das wird auch immer ein bisschen bleiben“, weiß die frühere Büroassistentin. Sollte sich die Haltung noch mehr verändern, würde das bedeuten, dass Alida wieder mehr Schmerzen hat. 

Bis heute bekommt sie einmal in der Woche Methotrexat (MTX) von ihrer Mutter verabreicht, das vor nächsten Rheumaschüben schützen soll. Das Medikament hemmt das eigene Immunsystem und wird unter anderem auch in der Krebsbehandlung eingesetzt.

„Eine Heilung im klassischen Sinne gibt es bei Rheuma nicht, weil die tatsächliche Ursache für Rheuma immer noch unbekannt ist“, erklärt Rheumatologin Sailer-Höck. Dank der Medikamente können Menschen auch mit Rheuma ein relativ unbeschwertes Leben führen. Insgesamt hat sich die Therapie in den letzten 20 Jahren geändert: Wo früher stets auf Schonung gesetzt wurde, empfehlen Expertinnen wie Sailer-Hoeck jetzt in den schmerzfreien Phasen auf viel Bewegung. Einige ihrer Patientinnen und Patienten gehen sogar Skifahren – wenngleich stets mit Bedacht darauf, die Gelenke nicht überzubelasten. 

Die psychischen Folgen der Rheuma-Erkrankung

„Anfangs war ich sehr vorsichtig, wollte Alida zurückhalten. Aber mittlerweile weiß ich, dass ihr Bewegung gut tut“, erzählt Daniela. Die Frage sei nur gewesen, welche Art der Bewegung funktionieren kann. Spazieren zu gehen, sei für Alida nicht das Richtige gewesen. Der Weg zum „Dorf-Edeka“ in Kirchham sei, nachdem das Mädchen zu schwer wurde, um getragen zu werden, jedes Mal eine frustrierende Erfahrung gewesen. „Sie hat mir Immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie einfach nicht mehr kann”, erinnert sich Daniela: „Momente wie diese und die vielen eindrücklichen Erfahrungen im Krankenhaus – wie etwa dass wir ihr Spritzen geben mussten, obwohl sie es nicht wollte – haben ihr Selbstbewusstsein geschwächt“, ist sich Daniela der psychischen Folgen bewusst. 

Im Gespräch ist Alida anfangs zurückhaltend. Zu Beginn spricht sie nur im „Flüstermodus” mit mir: Sie flüstert der Mutter die Antworten ins Ohr, die spricht die Worte dann – ähnlich einer Dolmetscherin – laut aus. Auch ihre Baby-Puppe hat Alida dabei. Als wir einander schon ein bisschen besser kennen gelernt haben, lässt Alida manchmal das Baby, Emma, antworten; ihre Stimme wird dabei höher und leiser. Je länger sie mit Babystimme spricht, desto öfter fällt sie wieder in ihre eigene Stimme zurück. Irgendwann bleibt sie dann bei ihrer eigenen Stimme. Baby Emma sitzt dann nur noch als Unterstützerin neben ihr, wie eine Freundin.

Radfahren stärkt das Selbstvertrauen

Es ist ein Geburtstagsgeschenk, das den Rheuma-geprägten Alltag von Mutter und Tochter grundlegend verändern wird: Alida – sie ist gerade vier Jahre alt geworden – bekommt ein Fahrrad. Als sie es in der Früh auspackt, will sie es auf der Stelle ausprobieren: Schon um sieben Uhr morgens sitzt sie das erste Mal auf dem Rad. „Es brauchte nur ein paar Hilfestellungen, und schon fuhr sie davon“, erinnert sich Daniela. Die Mutter stöbert in alten Videos und findet schnell jenes von Alidas erster Fahrradfahrt. Es zeigt, wie Daniela noch einige Meter neben ihrer Tochter am Fahrrad mitläuft. Die helfenden Hände auf ihrem Rücken, die sie anschupsen und Schwung geben, braucht Alida nach dem Aufsteigen schon bald nicht mehr. Glucksend und laut lachend fährt sie dahin, nur ein paar kleine ungeplante Schlenkerer macht sie bevor sie kurz vor der Wiese wieder bremst. 

Wegen des niedrigen Gewichts habe sie sich für das woombike entschieden, erzählt Daniela: „Alida soll nicht schwer heben. Dass sie von Anfang an selbstständig ihr Fahrrad aufheben konnte, hat sie bestärkt und selbstständig gemacht.“ 

Bewegung ist inzwischen ein selbstverständlicher Teil im Alltag des Kindes. In ihrem Waldkindergarten sind alle Kinder bei jedem Wetter draußen. Und seit das Mädchen mit dem eigenen Fahrrad unterwegs ist, sind die Wege zum „Dorf-Edeka“ keine Quälerei mehr, sondern Entdeckungsreisen: Gerade stoppt Alida wieder an einem Gartenzaun, hinter dem die Hühner gackern. Und zwischendurch verrät sie mir immer wieder einmal ein Geheimnis: Etwa, dass sie zusammen mit den anderen im Waldkindergarten ‚Laufen bis man fliegt‘ spielt. Und auch ihren Berufswunsch verrät sie mir: „Wenn ich groß bin, will ich Ärztin werden“.

TEXT & FOTOS: Katharina Brunner